Per Boot in die Galaxis
Text von Frederik Seeler für GEO SAISON
Diese Geschichte begann an einem Januartag in Berlin. Ein Winter, der war, wie Winter halt sind, kalt und depressiv. Monate, in denen man darauf wartet, dass irgendwer einem sagt: wird schon wieder. Ich flüchtete in die Wärme des Zeiss-Planetariums im Prenzlauer Berg. Wer in Berlin Sterne sehen will, kann sie sich hier auf einer Leinwand-Kuppel vorführen lassen. Bevor die Show anfing, erwähnte der Moderator eine Flusslandschaft. Nicht weit weg – und so dunkel, dass man dort Tausende Sterne sehen könne.
Noch in der S-Bahn nach Hause googelte ich: Ganz im Westen Brandenburgs liegt ein riesiger Naturpark. Die Havel speist hier Seen, durch die Hechte und Zander schwimmen, an deren Ufern im Herbst Zugvögel rasten. Nur etwa 75000 Menschen leben auf einer Fläche größer als Berlin. Das Westhavelland ist fast so dunkel wie die Wüste Namibias oder das australische Outback. 2014 ernannte die International Dark Sky Association (IDA) das Gebiet zum ersten Sternenpark Deutschlands, einem Reservat der Dunkelheit. Die Website zeigt Bilder der Milchstraße, dem Sternhaufen der Plejaden, sogar Polarlichter konnte man dort schon beobachten. Ich schaute aus dem Fenster der S-Bahn, sah die Lichtkegel von Straßenlaternen und die Rücklichter auf der Ringautobahn und beschloss, zu den Sternen zu reisen.
Ende Juli schiebe ich ein Kajak in das Wasser des Hohennauener Sees und gleite in die Dämmerung. Acht Personen haben außer der Fotografin und mir die Tour »Mondscheinpaddeln« gebucht, bei der uns ein Guide nachts über die Seen des Sternenparks führt. Dabei sind zwei Hobbyastronomen, die regelmäßig Sterne beobachten, ein Pärchen aus Brandenburg mit Eltern auf Wochenendtrip, ein Rentner, der seinem 15-jährigen afghanischen Ziehsohn Brandenburgs Natur zeigen möchte.
Es ist 21 Uhr, am Horizont glüht Dämmerlicht, Graugänse fliegen über uns. Wir paddeln vorbei an einer Netzreuse, am Uferrand plumpst ein Bieber ins Wasser und schwimmt ins Schilf. Im Süden leuchtet der Mond auf, neben ihm sieht man die Silhouette Jupiters, des größten Planeten im Sonnensystem. Saturn folgt ihm wenige Minuten später. Das Sonnenlicht erreicht Jupiter nach 800 Millionen Kilometern, Saturn erst nach 1,4 Milliarden, und lässt sie trotzdem am Nachthimmel strahlen als wären sie selbst Sterne. Im Westhavelland, wo kein Licht unsere Augen stört, sieht man die beiden Planeten schon in der späten Dämmerung leuchten. »Warum es hier so dunkel ist?«, sagt Guide Thomas Becker, der im Kajak vor uns paddelt. »Hier ist halt nichts«, beantwortet er seine Frage selbst.
Becker, 42, kommt aus Berlin und arbeitet für den Naturpark Westhavelland. Seit 2014 betreut er den Sternenpark. Er führt Gruppen auf Nachtwanderungen, veranstaltet Teleskop-Treffen für Hobbyastronomen. Im Frühjahr hatte er die Idee, mit Kajaks nachts auf den See zu fahren, um Sterne zu beobachten. Auf dem Wasser fühlte er sich Dunkelheit und Stille ganz nahe. Als er das Mondscheinpaddeln dann als Tour anbot, waren die Plätze schnell ausgebucht; auch Becker bemerkt, dass dieses Jahr viele Leute Zuhause Urlaub machen wollen.
Vor allem aber ist Becker Lobbyist für die Dunkelheit. Damit der Sternenpark die Auszeichnung in den nächsten Jahren behält, muss er dafür sorgen, dass die Region dunkel bleibt. Doch als wir einen Kanal entlang paddeln, sehen wir grelle Lichter: Straßenlaternen an einer Dorfstraße, die in der besonderen Dunkelheit so auffällig leuchten wie Flutlichter.
Das Wort Lichtverschmutzung klingt, als könnte Licht die Natur verdrecken. Es klingt, als müsste man neben Plastik und Diesel bald auch auf Lampen verzichten. Manche bezeichnen Becker deswegen als einen »blöden Umweltschützer«, wie er sagt. Bewiesen ist, dass der Mensch schlechter schläft, weil das künstliche Licht ihn wachhält. Insekten verenden, weil sie um Straßenlaternen kreisen, bis sie vor Erschöpfung vom Himmel fallen. Zugvögel verlieren über hellen Städten die Orientierung oder kollidieren mit beleuchteten Hochhäusern. Tagsüber besucht Becker die Bürgermeister der umliegenden Dörfer, versucht sie zu überzeugen, ihre Kirchen nachts nicht anzustrahlen, Straßenlaternen abzuschirmen oder auszuschalten. Die meisten sind kooperativ, besonders weil Becker ihnen vorrechnet, dass sie mit modernen LEDs, die weniger Licht streuen, tausende Euro Stromkosten sparen können. Becker sagt: »Wir Lichtschützer wollen nicht zurück ins Mittelalter, sondern nur verantwortungsvoll mit Licht umgehen.«
Wir lassen die Laternen schnell hinter uns und paddeln zurück in die Dunkelheit. Fledermäuse stürzen vorbei, fressen die Mücken, die über unseren Köpfen kreisen. Ich schaue in den Himmel und plötzlich sind da: Sterne. Tausende von ihnen. Etwa 3000 werden wir in der Nacht sehen können. Würde der Mond nicht leuchten, wären es noch mehr, aber das Mondlicht hilft uns, die Kajaks nicht ins Uferschilf zu steuern.
Jeder, der mal einen richtigen Sternenhimmel gesehen hat, kennt das Gefühl, sich plötzlich der eigenen Nanowinzigkeit bewusst zu werden. Seit Jahrtausenden beobachten Menschen die Sterne, geben ihnen Namen, erzählen sich Geschichten über sie, versuchen zu verstehen, in welchem Verhältnis sie zu ihnen stehen. Irgendwann fanden Astronomen heraus, dass die Erde nur im hinteren Drittel einer mittelgroßen Galaxie durchs Weltall treibt, beleuchtet von einer Zwergsonne. Jede Nacht können die Menschen tausende andere Sonnen und Galaxien sehen, wenn sie nur genau genug nach oben schauen. Und wenn der Mensch sich fragt, ob da draußen intelligentes Leben wartet, dann auch, weil er insgeheim hofft, dieses gigantische Universum nicht alleine erklären zu müssen.
Wir steuern die Kajaks an Land, stapfen durch den Uferschlamm, damit wir noch intensiver nach oben schauen können. Becker gießt uns Kräutertee aus einer Thermoskanne ein, verteilt Butterkekse und Knäckebrot. Dann zeigt er uns Sternbilder: Da im Norden, der Große Wagen, in dem andere Kulturen eine Bärin, einen Sarg mit Trauerprozession, eine Henkelpfanne oder einen Schöpflöffel erkennen. Daneben der Nordstern, der fast genau auf der Linie der Erdachse liegt und den Weg zum Nordpol weist. Ganz oben streckt sich zart die Milchstraße. Wer versucht, mit dem Teleskop den milchigen Schleier zu durchdringen, bemerkt, dass er aus weiteren Millionen Sternen besteht.
Becker erklärt den Himmel dennoch eher rational als romantisch: »Sternschnuppen sind eigentlich nur Dreck«, sagt er. »Der Abfall von Kometen.«
Aber wie sehr er sich für Astronomie begeistert, hört man, wenn er von seiner Lieblingsgalaxie erzählt, der Wirbelgalaxie M-51, die mit ihren Strudelarmen nach einer Begleitgalaxie greift. Mit dem bloßen Auge sieht sie aus wie ein Stern, aber wenn er sie im Teleskop betrachte, sagt er, sei er jedes Mal überwältigt, was er da sehe: zwei Galaxien, die aneinander zerren, 30 Millionen Lichtjahre von uns entfernt.
Wir steigen in die Kajaks und fahren zurück auf den See. Der Mond leuchtet nur noch schwach, die Sterne strahlen immer intensiver. Ihr Licht reflektiert im Wasser, durch das unsere Kajaks schneiden und ihr Spiegelbild erzittern lassen.
Die Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, selbst Farbnuancen der Sterne kann man jetzt erkennen. Ich sehe den leichten Rotstich im Mars, den Stern Wega, der bläulich-weiß leuchtet, und den gelb-orangenen Arktur im Sternbild Bärenhüter. Dann verglühen die Sternschnuppen vor uns, wir halten an und schauen und schauen.
Erschienen in GEO SAISON Oktober 2020
https://www.torial.com/frederik.seeler